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AutorenbildSeverin König

Keine Grenzen, nur Fragen: Marilena Tscharner und die Ehrlichkeit in der Kunst


Was darf Kunst? Wo liegen ihre Grenzen – und wer setzt diese überhaupt? Kunst lebt vom


LAILA TSCHARNER
Mommy, mommy why dont you like me? (ongoing), aktuellste Version, Acryl auf Hartschaumplatte, 130 x 200 cm, 2023


Diskurs, vom Herausfordern, aber auch vom persönlichen Ausdruck. Doch wie definieren Künstlerinnen ihre eigene Position innerhalb dieser Spannungsfelder? Marilena Tscharner eröffnet in diesem Interview eine nachdenkliche und sehr persönliche Perspektive auf die Kunstwelt. Sie teilt ihre Gedanken zu Tabus in der Kunst, ihren Inspirationsquellen und ihrer einzigartigen Arbeitsweise und erklärt, warum Ehrlichkeit und Reflexion zentrale Bestandteile ihres Schaffens sind.



1. Gibt es Ihrer Meinung nach Themen, die in der Kunst tabu sein sollten? Wo setzen Sie persönlich Grenzen in der künstlerischen Auseinandersetzung?

 

Tabus im Zusammenhang mit dem Kunstbegriff finde ich schwer zu definieren, da sie immer stark von kulturellen, sozialen und individuellen Perspektiven abhängen.Wenn ein Tabu vorliegt oder sich entwickelt, so obliegt es meiner Meinung nach stets der künstlerischen Freiheit, dieses herauszufordern. Die Kunst sehe ich als eine veränderbare Variable im sozioökonomischen Kontext, welche sich stets neu erfindet, wodurch definierte Grenzen folge dessen keine Beständigkeit erlangen. Persönliche Grenzen setze ich dann, wo es um Inklusion Dritter, nicht-konsensfähiger Parteien geht. So zum Beispiel bei Arbeiten, welche nicht-zurechnungsfähige Personen oder aber auch lebendige Tiere (…) beinhalten.

 

2. Können Sie von einer Erfahrung, einem Ort oder einem Menschen erzählen, der Sie grundlegend inspiriert hat, Kunst zu schaffen? Was war die „Wurzel“, die Ihren kreativen Weg geprägt hat?

 

Die Quelle meiner kreativen Prägung ist meine Vergangenheit und das damit verbundene Erinnern. Nicht nur die Fähigkeit, sondern auch der Drang, künstlerisch tätig zu sein, schreibe ich der kreativen Ader meiner Familie zu. Unverständnis, Eigenheit und das Bedürfnis, sich mithilfe der Kunst erklären zu müssen verbinden das künstlerische Schaffen unter dem Namen Tscharner zu einem Gefühl der geistigen Aufgehobenheit. Hinzu kommt als Ursprung auch das Gefühl, genauer das Spüren: Haltlosigkeit, Ungewissheit und Angst im Zusammenhang mit der Einstimmung auf die Zukunft. Was bedeutet Selbstverwirklichung für mich? Wie kann ich meine Zukunft nutzen, um meinem Wesen treu zu bleiben und wie kann ich mich dabei dennoch gleichzeitig weiterentwickeln, um stets meinem eigenen Zeitgeist zu entsprechen?

3. Wie würden Sie Ihren Stil in eigenen Worten beschreiben, und was unterscheidet ihn Ihrer Meinung nach von anderen in der zeitgenössischen Kunstszene?

 

Ehrlich, sensibel, reflektierend. Meine Arbeit ist der Prozess, dessen Ergebnis nicht das Endprodukt, sondern der daraus entstehende Diskurs und persönliche Mehrwert ist. Ich denke in der heutigen Zeit, besonders auch hinsichtlich digitaler Phänomene ist es nicht selbstverständlich, es könnte gar gefährlich sein, Persönliches in der Form zu teilen, wie ich es tue. Es bietet eine Angriffsfläche, welche viele Menschen nicht bereit sind, offenzulegen. Es ist nicht so, als wäre mir dieser Fakt egal oder gar entgangen, jedoch dient meine Kunst mir in Form von kontinuierlicher Selbstreflexion und damit verbundener Weiterentwicklung. Ich kann gar nicht anders, als ehrlich zu mir selbst zu sein, wo wäre da sonst der Sinn? Bei meiner letzten Ausstellung fand ich Bestätigung darin, dass das Teilen meiner Erfahrungen und Gedanken positive Aspekte mit sich bringt, abgesehen vom rein administrativen Aspekt der künstlerischen Repräsentation im Internet. Im Augenschein meiner Arbeit teilten Betrachtende mir ihre Erfahrungen mit, wobei mich dies nicht nur gestärkt sondern auch berührt hat. Vielleicht können wir alle wieder etwas menschlicher, etwas ehrlicher mit uns selbst werden? 

 

4. Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein unbegrenztes Budget und völlige Freiheit, eine Ausstellung zu gestalten. Welche Vision würden Sie verwirklichen, und wie würden Sie Ihr Publikum in diese Erfahrung einbinden?

 

«mintgegn cun sieus pêr» - Gleich und Gleich gesellt sich gern. Obwohl ich an jegliche Verrücktheiten denken muss in Anbetracht der grossen Offenheit dieser Frage, komme ich dennoch immer wieder auf dieselbe Antwort zurück. Mein Wunsch ist es, das verlorengehende künstlerische Erbe meines Urgrossvaters zu monumentalisieren. Ganz im Sinne meiner reflektierenden Tendenzen möchte ich mehr über meinen künstlerischen Ursprung erfahren und damit auf experimentelle Weise arbeiten. Mächtige, organischen Holzskulpturen und monströsen Fratzen mit schweren, betäubenden Inhalten in einen Kontrast zu grossen, möglicherweise sogar themenaufgreifenden Malereien oder malerisch-plastischen Collagewerken zu stellen und vereinen könnte eine schwere Kost für die ein oder andere besuchende Person sein, würde jedoch eine Menge Raum für Diskurs bieten, was genau in meinem Interesse liegt. 


Marilena Tscharner zeigt in diesem Gespräch, dass Kunst viel mehr ist als das Werk an der Wand oder die Skulptur im Raum. Kunst ist Prozess, Selbstreflexion und Kommunikation – mit sich selbst und mit der Welt. Ihre Perspektiven auf Tabus, Inspiration und den Umgang mit der eigenen künstlerischen Identität laden dazu ein, den eigenen Blick auf Kunst und ihre Rolle in der Gesellschaft zu hinterfragen.

Vielleicht, so wie sie sagt, kann Kunst uns dabei helfen, ein wenig ehrlicher mit uns selbst zu werden.


 

 

 

 

 

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